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Rastlose Seelen

Er trat durch ein steinernes Tor aus grauen glatten Felsen, welches wohl schon ewig
in seiner Form Bestand hatte. Unregelmässig fügte sich ein Stein an den anderen,
und in den Fugen war noch der Mörtel zu erkennen.

Vor dem Tor war die Strasse - asfaltiert aber unbefahren, und so sah die Welt auch aus,
als er hindurchgetreten war. Schon seit langer Zeit befand der sich auf seiner weiten Reise.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange schon, denn zu spontan war er aufgebrochen.

In einer kalten, dunklen Nacht, war er voll von Unruhe erwacht. Sein Magen, oder sein Herz,
vielleicht auch kein greifbares Organ, hatte gedrückt und gezogen, und ihm Unwohlsein gebracht.
Er war aufgestanden, und er war in der Wohnung umhergelaufen,
doch sein übles Gefühl hatte nur weiter und weiter an Macht gewonnen.

In seinem alten Leben war er Metzger gewesen. Tag ein, Tag aus hatte er geschlachtet und zerteilt,
Tiere gekauft, geschlachtet, zerteilt und ausgenommen und schliesslich an hungrige Kunden verkauft,
oder auch an und dann an Freunde verschenkt. Er hatte viele Freunde gehabt - Freunde und Bekannte.
Bei ihnen allen hatte er einen treffenden und lange schon eingespielten Spitznamen gehabt.
Sie alle nannten ihn "Butcher"; "Butcher" - "Der Metzger".

Das alles bedeutete ihm nicht mehr viel, nach jener langen dunklen Nacht,
die er schlaflos mit brennender Seele hatte zugebracht. Im Morgengrauen war er auf die Strasse getreten,
nicht fähig all zu viel zu tun. Im Hause zu verharren hatte er nicht länger vermocht.

"Hey Butcher, wohin so früh?", hatte ihn der Postbote angesprochen,
auf halbem Weg zum Rande des Dorfs. Er hatte nichts erwidert. Getrieben von innerer Unruhe war er gegangen,
weiter und weiter, Jahre lang. Er hatte sich teils in der Natur verpflegt, und es war nicht selten gekommen,
dass er die Tage als Bettler verbrachte. Doch es ging weiter und weiter, bis zum heutigen Tage,
als er durchs alte Steintor trat, geschaffen aus grauem Fels. Der Platz bot reges treiben.
Geschäftige und bummelnde Menschen prägten das Treiben am Ort,
wenn auch nur in mässiger Zahl, so dass ein recht lichtes Gefüge entstand.

Butcher sah zu seiner rechten zu Boden, denn dort sass ein Mann mittleren Alters,
wohl in der Art wie er. Der Mann blickte traurig drein, und er sah zu Boden,
während er in sich gekrümmt am Randstein sass. Er trug einen grauen Hut,
von der Arte wie er schon sehr lange nicht mehr modern war,
und sein unrasierter Bart bildete rauhe Stoppeln über seinem Gesicht.

Nur undeutlich erkennbar nahm Butcher das blaue, aber traurige funkeln der Augen wahr.
Butcher konnte nicht anders als zu verharren. Er blickte auf den Mann herab,
der da so mit verschränkten Armen und einegzogenen Knien am Boden verharrte.
"Entschuldigung, können sie mir sagen, welches Datum wir schreiben?" Der Mann zeigte keine Reaktion.
Butcher setzte sich kurzentschlossen neben ihn. Er hatte das Gefühl, dass er auf eine unbestimmte
Weise einen Leidensgenossen gefunden hatte. "Sie Wirken nicht glücklich."

Der Mann in grau schüttelte beharrlich den Kopf. "Wissen sie, ich bin auf der Suche nach Erfüllung."
Nun umspielte die Mine des Hutträgers ein kleines lächeln. "Ich auch, mein Herr, ich auch", antwortete er leise.
"Ich suche schon lange, und ich suche nach einer Würze des Lebens, die so frisch ist wie junges Grass,
und duftet wie ein vollkommenes Gedicht. Es muss wohl derartiges geben, aber ich habe es, denke ich,
noch niemals gesehen in meinem Leben. Wissen sie: Ich stehe am Rande der Resignation,
am Ende vor dem Fristen meines Daseins bis zu meiner Erlösung, dem Tode."
Nun war es an Butcher zu schweigen. Der Mann lachte. "Ich denn wohl auch bald", murmelte Butcher.

Etwas betonter sprach er fort: "Ich suche auch schon lange, schon viel zu lange.
Meine Seele brennt in der Nacht wie Feuer, und am Tag vermag ich nichts weiter denn zu gehen.

Ich suche nach der Reinheit, nach der Vollkommenheit, doch ich weis nicht einmal wie sie ist.
Ich suche nach etwas klarem, reinem, von sehr dezentem Duft,
nach etwas ohne grosse Mühe, das dennoch durch Perfektion besticht.

Ich weis nicht, ich habe ein Bild, von sanftem, weichem Grau,
vielleicht mag es auch etwas ins bräunliche gehen, doch glatt und beschichtet in feiner,
sanfter Nuance von Gelb. Wohl so hatte ich nicht all zu wenige Träume,
doch nur sehr verschwommen in vergangenen Jahren."

"Sie haben's leicht. Sie suchen ein Butterbrot."Der Mann mit dem Filzhut grinste.
Butcher sass mit aufgerissenen Augen neben ihm auf dem Gehsteig, dann wurde sein Mund breiter,
und die Mundwinkel schoben sich nach oben. Dann lachte er. Schliesslich weinte er vor Glück,
als er sich zurücklegte, auf die Arme gestützt."Ein Butterbrot; ein wunderschön gestrichenes Butterbrot!",
gab er glücklich von sich. Er tippte sich mit der flachen Hand an die Stirn. "Na klar, ein Butterbrot!"
Der Mann mit Hut hatte aufgehört zu lächeln. Er blickte wieder traurig,
und er begann sich langsam wieder zu verschliessen. Butcher bemerkte es schnell.

"Wir müssen nun aber auch ergründen, wonach ihre Erfüllung strebt, denn sind sie unglücklich,
kann ich meine neue Freude nicht in Vollkommenheit geniesen. Ich würde ihnen gern helfen,
doch sie suchen nach der Frische von jungem Gras. Denken sie nicht unsere Wünsche könnten sich ähneln?"
"Nein, nein, denn es muss sehr frisch sein, es muss duften wie Freude. Vielleicht ist es auch ein Parfum."
"Oder ein Gewürz?" "Nein, keine Brösel." "Petersilie!" Nun war es an dem Mann in Grau die Augen weit zu öffnen.
Gleichzeitig sprangen die beiden auf und fielen sich in die Arme.
Mit vor Freude bebender Stimme unterbreitete Butcher seinen Vorschlag,
sie sollten in das nächste Gasthaus gehen, um sich dort den Lohn für ihre lange Suche zu beschaffen,
und so wankten sie davon.

Sie fanden eine Gaststube. Lächelnd blickten sie sich an. Bevor sie durch die Tür traten,
überprüften sie noch den Inhalt ihrer Taschen. Sie hatten genug Kleingeld. Die Gaststube war eng und gemütlich,
und es lies sich ein feines Plätzchen an einem Ecktisch beschaffen. Keiner von ihnen sprach,
viel zu gross war die Erregung, bis endlich die Bedienung kam. Mit einem Lächeln fragte sie nach den Bestellungen.

"Ein schönes Butterbrot bitte", säuselte Butcher, "aber ich möchte es doch bitte selbst streichen,
wenn das geht."Die Bedienung machte einen etwas ironischen Gesichtsausdruck,
notierte aber loyal die Bestellung. Dann wendete sie sich dem anderen Herrn zu.
Den grauen Filzhut hatte er abgenommen. Er blickte die nette Dame an, und meinte:
"Ich hätte gern nur eine sehr grosse Portion Petersilie!" Die Bedienung lächelte nicht mehr.
Sie ging ohne weitere Fragen weg. Dies vermochte aber nicht die Stimmung der beiden neuen Freunde zu trüben.
Bald schon waren sie in Gespräche aller Art vertieft.
Die Bedienung stellte Brot und ein Stück Butter auf den Tisch.

Sehr, sehr herzlich bedankte sich Butcher, und sodann begann er genüsslich das Brot mit einer glatten,
nicht zu dicken Schicht von Butter zu bestreichen. "Wir haben keine Petersilie."
Die betroffenen Augen des Mannes in grau machten der Bedienung Angst.
"Geht Schnittlauch vielleicht auch?", meinte sie vorsichtig aber ignorant. "Äh, äm, ä, na ja, also gut..."

Die Bedienung ging deutlich schneller als beim ersten mal weg. Ihre Mine enthielt fast schon Entsetzen.
Der Mann in Grau war nicht mehr ganz so fröhlich, aber immer noch in gehobener Stimmung,
als Butcher in sein Brot biss und den Bissen genussvoll am Gaumen zergehen lies,
glücklich nach oben blickend. Draussen war es Abend geworden.Die untergehende Sonne tauchte den Himmel
in warme Farbschleier, und der Horizont strahlte und leuchtete in das klare Firmament.
Als das Gericht beendet war, und die beiden nicht länger suchend das Freie betraten,
lag lediglich noch ein purpurroter Schleier am Ende der Nacht.

Thomas Keller

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